Das Zentrum der Kugel

Eine Kurzgeschichte auch über Kornkreise

von Stefan Folz (www.stefan-folz.de)

Was wäre, wenn Pi nicht 3,14159, sondern 3,48487 wäre? Würde das Universum anders aussehen? Wie würden die Botschaften der höheren Lichtwesen dann lauten? Wären Kreise etwa oval? Ein unangenehmes, klirrendes Geräusch am anderen Ende des Saales schreckt Sven Gabriel an diesem milden Herbstmorgen aus seinen philosophischen Gedanken. Gerda, unverzichtbarer Bestandteil der besten und leider auch einzigen Gastronomie im beschaulichen Kugelbach, hat ein Tablett mit Korn- und Biergläsern in elegantem Schwung zu Boden gebracht. Doch das lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer ebenso wenig ab wie die koketten Auftritte von Gerdas Kollegin Sonja, deren Dirndl in dieser mitteldeutschen Idylle zwar ebenso wenig echt wirkt wie ihre strohblond kolorierten Haare, ihre überaus weibliche Figur jedoch werbewirksam zur Geltung bringt. Das Interesse gilt vielmehr, zumindest oberflächlich, dem Vortrag eines dynamischen jungen Mannes vor seinem ebenso alters- wie lichtschwachen Overheadprojektor. Mit Hilfe eines speziell entwickelten Lasermaßbandes hat er in den vergangenen Wochen diverse Kornkreise vermessen, die immer wieder – plötzlich und unerwartet – in der Landschaft um Kugelbach aufgetaucht sind. Hübsch waren sie gewesen, diese Kreise. Pittoreske Schleifen, elegante Spiralen und rätselhafte Piktogramme formten sich in landwirtschaftlicher Bepflanzung unterschiedlichster Art. Wenngleich sich der Birnbaumkreis letztendlich doch als Werk verwirrter Holzfäller herausstellte, die Gegend um Kugelbach ist und bleibt ein Paradies für Kornkreisforscher, die sich an diesem Wochenende zu einem eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Kongress zusammengefunden haben.

Zahlen über Zahlen hat Bodo Meck, so der Name des jungen Mannes auf der Bühne, fleißig vermessen und diese in Beziehung zu anderen gesetzt, die sich seit Jahrtausenden in den Archiven von Astronomen, Alchimisten und Geheimwissenschaftlern finden lassen. Niemand der rund 50 Personen im Saal ahnt jedoch, dass man diesen so virtuos mit Zahlen und Relationen jonglierenden Mann einst mit Schimpf und Schande seiner Schule verwiesen hat. Durchaus talentiert, urteilten die Pädagogen des Lucie-Pringle-Realgymnasiums in der kleinen Kreisstadt, damals noch an der undurchdringlichen Grenze zum anderen Deutschland gelegen. Doch viel zu unkonzentriert, vergesslich und ständig mit Dingen beschäftigt, die auf der Leiter des Erfolgs niemals nach oben führen können. Sie irrten in vieler Hinsicht, denn jetzt gehört Bodo Meck zu den Stars der Kornkreisszene. Alleine seine letzte Buchveröffentlichung hatte ihm mehr Tantiemen eingebracht, als der mittlerweile im Ruhestand befindliche Direktor seiner ehrwürdigen Schule in drei Jahren als Beamtenpension verbuchen kann. Böse Zungen behaupten sogar, der ganze Kornkreiszauber wäre nur das Ergebnis eines geschickten Rachefeldzuges gegen die ehemalige Bildungsanstalt, mit dem vorläufigen Höhepunkt eines ausverkauften Vortrags in der Aula im vergangenen Jahr. Nach dessen furiosem, von der Lokalpresse fulminant gefeierten Finale hatte Bodo gnädig die Huldigung von Bürgermeister, Schulleiter und Landrat entgegengenommen. So schnell kann aus einem allseits verachteten Versager ein »großer Sohn der Stadt« werden.

Wie auch immer, Bodo Mecks Thesen von der Zahlenbotschaft der Venusbewohner werden zwar allgemein durchaus kontrovers diskutiert, doch die Zahl der Bewunderer übersteigt die der Kritiker bei weitem. Wenn Oliver, Alexander und Bertram, gut sichtbar in der zweiten Stuhlreihe platziert, ihre Zweifel am virtuosen Zahlenspiel haben, dann liegt das nicht alleine daran, dass weder Mecks prophezeiter Weltuntergang noch die Flutkatastrophe am Rande der Wüste Gobi bislang Wirklichkeit geworden sind. Ihr Interesse weckt eher die Tatsache, dass gerade ein Kornkreis behandelt wird, den sie ganz persönlich ins Rapsfeld am Kugelbacher Hofgarten gezaubert haben.
Lange ist es her, dass die drei Männer mit idealistischen Charakterzügen zu den ebenso gläubigen Kornkreisbewunderern gehörten, wie die Mehrheit der heute Anwesenden. Auch sie huldigten der Überzeugung, dass hier unbekannte, wahrscheinlich außerirdische Kräfte am Werk waren, die in der sanften Hügellandschaft der britischen Insel kunstvolle Botschaften hinterließen. Doch dann hörten sie von ungeheuerlichen Lügenmärchen. Ebenso irdische wie heimtückische Menschen würden während der Saison von Mai bis September des Nachts ausschwärmen und diese Wunderwerke zwar geheim, aber nicht geheimnisvoll, in die Vegetation stampfen. Eigentlich nur zum Spaß hatten sie sich dann eines Tages zusammengetan, um unmissverständlich zu beweisen, dass Menschen keine – oder zumindest sofort als Fälschungen erkennbare – Kornkreise machen können.

Mit einer Sorgfalt, wie sie nur selbsternannten Forschern zu eigen ist, gingen sie schließlich in einer lauen Sommernacht ans Werk. Die Form, die man dann in mehrstündiger, schweißtreibender Arbeit mit Hilfe von Walzen, Schnüren, Rührbesen und ganz profanen Grasscheren den Weizenähren abringen konnte, war von der damals als sensationell geltenden Pixelgrafik eines C-64-Computerspiels inspiriert, mit dem sich die drei Enthusiasten in den langen, kornkreisarmen Wintermonaten die Zeit vertrieben. Als am nächsten Morgen die Sonne langsam hinter den Hügeln hervorkam und die alles gnädig umhüllende Dunkelheit vertrieb, erstrahlte ein neues Phänomen unübersehbar in den noch grünen Ähren der landwirtschaftlichen Anbaufläche. Bis zum heutigen Tag gilt das Piktogramm eines Kreises, der sein kleineres Pendant zu fressen scheint, als der wohl echteste aller jemals beobachteten Kornkreise. Das wissen alle. Und bis zum heutigen Tag zählen Olli, Alex und Bertram zu den geschicktesten Hoaxern in Deutschland. Doch das weiß niemand.
Auch nicht Viktor Wermeling, der raumfüllend Platz neben Sven Gabriel genommen hat. Für ihn ist der schon mittlerweile zwei Stunden andauernde Vortrag über die Verbindung der Venus-Tangente mit dem Betageuze-Faktor eine echte Offenbarung, wie er seinem Nachbarn ungefragt mitteilen muss. Schließlich haben die Kornkreise ihn aus einer lange andauernden persönlichen Krise befreit. Offen gesagt, bis zur ersten Begegnung mit diesem Phänomen konnte sich Viktor eigentlich an keinen Tag seines mittlerweile 40-jährigen Lebens erinnern, der krisenfrei gewesen wäre. Zwar war ihm das Glück beschieden, dass er exklusiv die Stimmen der außerirdischen Engelswesen von Plamon hören konnte. Leider waren ihnen aber die mit bösen Absichten nur so vollgestopften Konkurrenten aus der Nachbargalaxie durch Raum und Zeit gefolgt. Und leider mischten sich diese Xalanten genannten Unholde ungewollt in den nur für ihn hörbaren Dialog mit den Plamoniern ein.

Niemand kann sich vorstellen, wie quälend die Stimmen der Xalanten sein können. Und wie wenig sich Viktor gegen ihre strikten Anweisungen zu wehren vermag. Das hat ihn in der Vergangenheit schon so manches Mal in große Schwierigkeiten gebracht. Etwa als sie ihm befahlen, das uralte Waffenlager in unmittelbarer Nähe seines bescheidenen Einfamilienhauses freizulegen. Voller Angst hatte Viktor daraufhin eine Schaufel aus einem verborgenen Winkel seines Keller hervorgezogen und im Schutze der Dunkelheit eine Grube im angrenzenden, wohl bestellten Garten des Nachbarn zu graben angefangen. Das nächste, an das er sich erinnern kann, war ein verschlossener Raum in der psychiatrischen Abteilung des Kreiskrankenhauses gewesen. Es folgten lange Gespräche mit geduldigen, freundlichen Ärzten, die ihn jedoch nicht wirklich zu verstehen schienen. Stattdessen wurde Viktor mit sanfter Gewalt dazu überredet, bunte, große Pillen und bittere Tropfen einzunehmen. Dann waren die Stimmen der Xalanten nur noch als leises, dumpfes Flüstern wahrzunehmen und die der guten Plamonier sogar ganz verschwunden. Nur eines konnte Viktor noch verstehen: »Du hast versagt, wir werden dich langsam vergiften«.
Eigentlich sahen die Pillen und Tropfen, die jeden Morgen und Abend zu Einnahme anstanden, auch wirklich giftig aus. In gleichem Maße, wie Viktor das Gift nicht mehr zu sich führte, kamen die Stimmen zurück, doch das war zu ertragen. Bis zu dem Tag, als er zum ersten Mal das Zentrum eines dieser geheimnisvollen Kreise im Kornfeld betrat. Plötzlich war die Verbindung zu den Xalantiern völlig abgebrochen und nur noch die sanften Plamonier sangen ihre Botschaft von Glück und Frieden in der Welt. Und diese Botschaften gibt Viktor Wermeling seitdem an die dankbar zuhörende Kornkreisgemeinde weiter.

Natürlich sind auch Waltraud, Helga und Maren prinzipiell an den wichtigen Botschaften des Universums interessiert. Zumindest offiziell. Genau betrachtet befinden sich die drei seelenverwandten Freundinnen eher auf dem Weg der persönlichen Erleuchtung, der ganz individuellen Glücks- und Heilsfindung. Dass dies nur schwer und mit großen Entbehrungen zu erreichen ist, wissen sie schon lange aus den einschlägigen Standardwerken der Esoterik. Auch, dass diese Entbehrungen nicht unbedingt materiell sein müssen, denn finanziell sind alle drei durch Fleiß und Skrupellosigkeit ihrer Gatten bestens ausgestattet. Nein, die Entbehrungen sind eher auf einer feinstofflich-emotionalen Ebene zu verspüren. Waltraud zum Beispiel, eine agile Mittfünfzigerin, wünscht sich nichts sehnlicher als das Ableben ihres ebenso übel riechenden wie senilen Mannes. Genau wie Maren hat sie diese Beziehung noch ertragen, so lange sich der Gatte mit dem eindeutigen Werben um zwanzigjährige Blondinen beschäftigte. Doch im August ist er 85 Jahre alt geworden und irgendwann hat alles mal ein Ende. Pflege mit ihren unappetitlichen Begleiterscheinungen darf sie jetzt geben, statt mit pochendem Herzen romantische Liebe zu erhalten.
Zwar von wenig Erfolg gekrönt, aber im Großen und Ganzen recht spannend ist bisher der Weg der drei Frauen durch die verschiedenen Disziplinen der Esoterik verlaufen. Transzendentale Meditation und Thai Chi bildeten den Anfang, bevor man sich wirklich harten Themen wie Weissagung, Channeling und Voodoo-Zauber widmete. Astrologie erwies sich als intellektuell zu anspruchsvoll, der Tanz der Hexen um das Sonnwendfeuer quälte den Ischiasnerv und die Befragung der Untoten war dann doch zu gruselig. Schließlich hatte Maren, die jüngste der drei, in der vergangenen Woche die zündende Idee mit den Kornkreisen. Wenngleich kaum mehr als nebelhaftes Wissen um dieses Phänomen vorhanden war, schaden konnte ein Besuch bei den verwegenen Forschern sicherlich nicht. Schließlich ist Kornkreisforschen als einige der wenigen Esoterikdisziplinen nicht frauen-, sondern männerdominiert. Genau wie bei den Ufologen, doch selbst hier findet im Rahmen der allgemeinen Emanzipation ein Umbruch statt.

Wahrscheinlich werden die drei Damen zukünftig keine Kornkreisseminare mehr besuchen, denn ihre »Soulmates« mit der entsprechenden physischen und pekuniären Potenz weilen eher auf Betageuze als hier in diesem Raum, befindet Sven Gabriel, als er sich in der Runde umschaut. Sein Blick bleibt bei einer seitlich vom Rednerpult sitzenden Gruppe hängen, deren Minen gleichsam Verbissenheit und Verschwörerwille ausdrücken. Frauen spielen im Leben von Klaus-Rüdiger, Kai und Gregor eine höchst untergeordnete, um nicht zu sagen, gar keine Rolle. Ihr Streben ist einzig und alleine dem Phänomen der Kornkreise gewidmet. Tief davon überzeugt, kurz vor dem Durchbruch zu stehen und eines der letzten Geheimnisse der Menschheit zu lüften, haben sie sich um Lutz von Lummerswald geschart, der als nächster Redner nach der Mittagspause seine Theorien von der zur Kornkreisherstellung unvermeidlich notwendigen radioaktiven Lasertechnologie erläutern will. Zwar treten sie nach außen hin als unzertrennliche Forschergruppe auf, doch insgeheim hat jeder von ihnen geplant, im Laufe des spannenden Kongresses seine ganz persönlich durchgeführten Experimente und die damit verbundenen Schlussfolgerungen den geneigten Zuhörern zu präsentieren. Sven Gabriel weiß: Ganz gleich, ob Kai mit seinem selbstgebastelten Strahlendetektor hantieren oder Gregor seine Präzisionswaage vorführen wird, die den Gewichtsunterschied von Menschen innerhalb und außerhalb von Kornkreisen aufzeigen soll, sie werden zum selben Ergebnis wie Klaus-Rüdiger kommen. Er hat die geheimnisvollen Schriftzeichen übersetzt, die er im Untergrund der Kreise gefunden hat. Die Botschaft lautet: »Wir Außerirdischen waren schon da und sind es immer noch!« Sven Gabriel übersetzt es anders: »I want to believe!« und das Gesicht seines Lieblingsschauspielers Fox Mulder scheint sich aus dem Dampf der heißen Kartoffeln zu formen, die Gerda und Sonja gerade lautstark durch die Tür tragen.

Kommentare sind geschlossen